Marco Ansing
Autor und Sprecher
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Themenstarter/in
Quelle: Hamburger AbendblattBräuche: German Gemütlichkeit muss gar nicht sein Advent, kein Lichtlein brennt Es gibt wieder Budenzauber. Der Glühwein fließt in Strömen. Aber ohne uns. Wir feiern 2008 ohne Weihnachtsmarkt. Wir bleiben zu Hause und backen Plätzchen. Von Thomas Andre
Es wird ja jetzt wieder so was von besinnlich. Die Marktplätze "erstrahlen" im festlichen Licht, es riecht nach gebrannten Mandeln und nach Bratwurst, bei knackiger Kälte wird es kuschelig und sehr friedvoll. Harmonie wird allüberall sein, wenn die Familien oder Betriebe zum Lebkuchenessen einfallen. Oder zum Glühweintrinken, Nippes-Stöbern und Tannenbefummeln. Wenn es dunkel wird, ist der Weihnachtsmarkt für Christkind-beseelte Innenstadtflanierer der lieblichste Ort auf Erden. Und das nicht nur in Deutschland! Denn der Weihnachts- oder Christkindlmarkt ist ein Exportprodukt wie Mercedes, Adidas und Beck's. Nikolaus, Naschwerk, Deftiges vom Grill, Kuckucksuhren und bestimmt auch Lederhosen, das ist auf den Märkten in der Vorweihnachtszeit auch in Amerika, nur so als Beispiel, die gängigste Vorstellung von der "German Gemütlichkeit".
Der Weihnachtsmarkt oder "Christkindlmarket" ist ziemlich populär in Amerika und Großbritannien, und das ist doch eine ordentliche Handelsbilanz: Wir bekommen George Clooney und Oasis und die Lebkuchen und urige Uhren. Es ist natürlich billig, über Weihnachtsmärkte zu spotten, nur weil sie gefühlsmäßig in eine Kategorie mit der Karl-Moik-Kultur gehören. Aber der "Zeitlosigkeit" dieser traditionellen teutonischen Geselligkeit sollten wir heuer trotzdem endlich den Garaus machen und lieber den Zeitgeist sprechen lassen. Wie, Weihnachten und Trend gehen nicht zusammen? Weihnachten, das Fest der Liebe, ist sakrosankt? Nö! Bretterverschläge im reichlich frequentierten Ortskern sind out! Bleiben Sie in den eigenen vier Wänden! Lesen Sie! Backen Sie Plätzchen! Hören Sie meinetwegen Musik!
Und das ist nicht zynisch gemeint. Wir gehen nicht davon aus, dass Sie wegen der Misswirtschaft der Bank Ihres blinden Vertrauens Ihr trautes Heim bald aufgeben müssen. Aber Stubenhocker sind ab jetzt ganz weit vorne, und zwar vor allem deswegen, weil sie auf den völlig überfüllten Glitzermärkten mit langweiligem Kunsthandwerk und traditionell lahmenden Rentieren, hüftsteifen Nikoläusen und süßlich-klebrigen O-Tannenbaum-Beschallungen eh nichts verpassen. Wer auf Weihnachtsmärkte geht, wird nicht nur von besinnlichkeitswütigen Mitbürgern, sondern auch und besonders mit fettigem Essen und heißem Wein empfangen. Und schon ganz junge Menschen, die dem Alkohol noch abhold sind, stellen mit Abscheu fest: Glühwein riecht wie Erbrochenes. Dazu das ewige Gebimmel, das verlässlich die Hohoho-Salven des Weihnachtsmannes untermalt. Nein, der Weihnachtsmarkt ist kein guter Ort. Bezaubernd will er sein, bestrickend und märchenhaft schön. In Wirklichkeit ist er öde, eng und tumb. Der feine Wirklichkeitsbeobachter Max Goldt hat Letztgültiges zum richtigen Umgang mit der Zumutung des Weihnachtsmarktes gesagt: Es gebe wenn überhaupt einen "Zauber des seitlich dran Vorbeigehens". Das ist es dann also: Wir passieren die Gefahrenzone, "kühl lächelnd, geführt von ruhigem, friedlichem Desinteresse", und begeben uns direkt nach Hause. Dort legen wir uns, sofern es ein regulärer Abend unter der Woche ist, lässig aufs Kanapee und lesen "Der Turm" von Uwe Tellkamp. Geistige Nahrung ist besser als Lebkuchen und Glühwein, sie versorgt unseren Gedankenspeicher mit wertvollen Kalorien. Dem Adventstrott entfliehen wir auch durch die Wahl der Musik: Dieses Jahr hören wir ausschließlich Punkrockversionen von Weihnachtsliedern. Auch am Wochenende bleiben wir zu Hause und meiden den Weihnachtsmarkt. Weil wir keine Einsiedler sind, laden wir uns aber jetzt Freunde ein, backen mit denen Plätzchen und trinken Tee mit Rum. Und Feuerzangenbowle ist wirklich ein zeitloses Vergnügen, das wir natürlich in Maßen genießen. Irgendwie packt es uns ja doch, das Jahresendzeitgefühl, wir sind schließlich keine grundsätzlichen und schon gar nicht dogmatische Weihnachtsmuffel. Wir haben nur etwas gegen den immergleichen Weihnachtsmarktkult, der sich besonders darin äußert, dass Weihnachtsmarktfans doch tatsächlich behaupten: Weihnachtsmärkte sind schön.
Das sind sie nicht. erschienen am 29. November 2008
Genial! ;D Was meint Ihr? Weihnachtsmarktmuffel oder Kämpfer am Glühweintopf? Daheim oder draußen?