Matze
Mitglied
- #1
Themenstarter/in
Als Adept von Johannes Gensfleisch borge ich mir seine beweglichen Metall-Lettern. Nie habe ich etwas Eigenes geschrieben, alles ist compiliert. Ich bin ein melancholischer Schrotthändler: Aus Abfällen zimmere ich meine Ansichten. Mich interessieren die tragikomischen Momente, in denen sich eine hochfliegende Kultur–Boheme und die Alltagsnormalität in die Quere kommen. Alles ist drin, aber nichts paßt zusammen. Die Sprache hinkt und klemmt an allen Ecken und Enden. Das ist ein trauriges, aber mein liebstes Spiel. Ein Spiel fast ohne Regeln. Wie bei jedem Spiel ist das einzig Wahre das Spiel selbst.
Schon früh war ein ausgeprägtes Interesse an Literatur vorhanden. Ich habe als Pennäler systematisch die Klassiker gelesen und mich gleichzeitig mit zeitgenössischen Autoren auseinandergesetzt. Meine Begeisterung für Literatur ist sehr früh von einer fast atemlosen Verzückung für Heinrich von Kleist geprägt worden, was bis heute ganz sicher meine Vorlieben für zeitgenössische Autoren, die ich mag, und andere, die ich weniger mag, beeinflußt. Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Im Anfang war nicht das Wort, am Anfang war das Licht. Der Urknall, der das Universum vor etwa ca. 14 Milliarden Jahren schuf, war eine Explosion strahlender Energie. Unsere "Licht essenden" Körper sind demnach eine Ansammlung gespeicherte Lichtenergie - ein Abglanz des atomaren Feuers in unserer Sonne. Vieles an uns und der Welt ist rätselhaft und dunkel - und die Finsternis unserer Vorurteile bedrohlicher als die der Meerestiefen. Unser Verstand ist uns Licht in dieser Finsternis. Er leuchtet nur schwach - und ist dennoch das wunderbarste aller Sonnenkinder. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen. Nach einem Aperçu von Jorge Luis Borges ist die Literatur selbst ihr eigentlicher Autor, auch wenn sie unter wechselnden Schriftstellernamen in Erscheinung tritt. Es wimmelt in ihr nur so von versteckten Doppelgängern, hinterhältigen Verschwörern und gewieften Falschmünzern, die ihre heimlichen Botschaften, verschlüsselten Kassiber und verworrenen Dossiers selbst über weit entlegene Räume und Zeiten hinweg austauschen. Dabei zielen die Ränke und Komplotte dieser Finsterlinge allesamt auf jene perfekten Verbrechen, welche die Kriminologen, alias Philologen, dann „Werke†nennen. Und während deren Korpora noch gesichtet und gesichert, klassifiziert und archiviert, kommentiert und musealisiert werden, konspiriert die Bande munter weiter. Von Plot zu Plot und von Blatt zu Blatt häutet sie sich wie eine Schlange, und wie diese beißt sie sich vorzugsweise in den eigenen Schwanz.
In der Bedeutung des Lehnwortes aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant. Damit möchte ich mich von einem so genannten "Fachmann" unterschieden. Auch Fachfrauen, die ich kennenlernte, halte ich für engstirnig, seelisch unberührbar und inhuman. Der Fachmann hat ausgespielt. Gefragt sind Menschen mit Verknüpfungskompetenz. Vor allem im intellektuellen Bereich. Nicht nur halte ich die Kategorien rechts und links für untauglich in der Kulturpolitik, sondern auch die Zuordnung zu Avantgarde oder Tradition – als handelte es sich hier um zwei Optionen, zwischen denen die Kulturpolitik wählen dürfte. Als Metafiktion bezeichnet man in der Erzähltheorie die Auseinandersetzung der Literatur mit ihren eigenen Vorgehensweisen, die Frage nach dem Status dessen, was sich überhaupt als wirklich bezeichnen lässt. Das ist keine leichte Frage, und noch viel weniger leicht sind die Antworten zu geben. Ich bin mit Leidenschaft dafür, daß Künstler sich mit grandioser Einseitigkeit auf das konzentrieren können, was sie spannend finden – und daß sie den Rest für völlig belanglos halten dürfen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit bestehe ich darauf, daß die Kulturpolitik das nicht darf. Die Kulturpolitik muß die Tradition genauso ernst nehmen wie die Avantgarde – und umgekehrt. Deswegen wäre mir außerordentlich unbehaglich, wenn die großen politischen Lager in Deutschland sich in einer Mischung aus Übermut und unzureichender Aufklärung für eines dieser beiden großen Felder – Avantgarde oder Tradition – als heimliche Schirmherren exklusiv verantwortlich fühlen würden. In der großen Zeit des Bildungsbürgertums war diese Verbindung vielleicht lebendiger.
Von den Print–Medien kommend habe ich als Schwarz/Weiss–Mann mein ganzes Leben der Schrift gewidmet, den Buchstaben und Zeichen, die keine Halbtöne kennen. Leitartikel sind nicht ohne. Schwieriger aber schon eine Kritik, ein historischer Aufsatz. Noch schwieriger eine Reportage. Dann kommen die Glossen, Kolumnen, das ist schon ziemliche Kunst. Der Zeitungskünste höchste aber ist: der Essay. Warum? Weil der Essay nichts erzählt und nichts bedenkt, weil er im Gegensatz zur Glosse oder Kolumne keine Pointe kennt und keine Moral von der G’schicht, weil der Autor in jeder Zeile gegenwärtig und doch am Ende zwischen den Zeilen verschwunden sein muss. Weil ein Essay ein textlicher Schwebezustand ist, ein vages Nichts, das exakt alles enthält: Leitartikel, Reportage, Kritik, historische Betrachtung. Dieser Prozess, sein Geheimnis, aus intensiver Welt- und Selbstwahrnehmung einen Text im Tone völligen Unbeteiligtseins herzustellen, läßt sich auf keiner Journalistenschule lernen. Mein oberstes Ziel ist zugleich mein eigentliches Problem: die optimale Lesbarkeit. Der Leser soll durch einen Wald voller Lichteinfälle laufen, nicht durch Betonwüsten in der Vorstadt. Mein Leben ist eine Reise in die Welt der Zeichen, Buchstaben und Symbole. Natürlich ist das Leben in Farbe, aber Schwarz/Weiss ist realistischer.
Weil mein Leben alles andere als aufregend verlaufen ist, halte ich es nicht für nötig, über mich zu schreiben. Die Vorstellungskraft eines Essayisten muß über die engen Grenzen der eigenen Existenz hinausreichen. Das Schreiben ist für mich ein Akt des Erkundens, mit dem Ziel, das Fremde und Andere besser verstehen zu können. Der Drang des Entdeckens führt dazu, daß ich mich weder auf die Erzählstimme beschränke noch auf die Perspektive des Angehörigen einer Minderheit. Meiner Meinung nach ist ein Essayist weder Politiker noch Sprecher für irgendeine Sache, ihm muß unabhängig von Ideologien die totale Freiheit der Imagination zustehen. Die einzige Moral eines Essayisten ist ein guter Satz. Alle Literatur ist autobiographisch, denn nichts ist so autobiographisch wie die Phantasie. Dessen ungeachtet gibt es fiktionale Texte, die zudem thematisch eng mit der Vita des Schreibenden verbunden sind. Und dann sind da einige nichtfiktionale Gattungen, die eine eigene Zwitterform bilden. Briefe gehören dazu, Tagebücher, Aufzeichnungen. Diese Textsorten stehen nicht unter dem Anspruch, Kunst zu sein, auch wenn sie oft als wunderbare Prosa bestehen können. Das existenzielle Schreiben kann man bei als moralische Selbstbehauptung beschreiben, z.B. in Michel de Montaignes Rückzug in sein offenes Projekt der »Essais« sieht. Was ich an Montaigne schätze, ist seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken. Mit dem Begriff 'Essay', zu Deutsch in etwa ''Versuch“, distanzierte sich der Meister bewußt von der Wissenschaft, seine ''Versuche'' sind vielmehr von subjektiver Erfahrung und Reflexion geprägte Erörterungen. Für mich bedeutet eine geistreiche Abhandlung eine Herausforderung meiner stilistischen und gedanklichen Fähigkeiten. Ich versuche mich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Historisches Denken ist eine vielfältig einsetzbare Software, die in Wirtschaft und Politik wie auch im Medien– und Kulturbetrieb ein vertieftes Verständnis aktueller Probleme und Konflikte ermöglicht. Vielleicht gelingt es mir, der literarischen Kunstform des Essays eine aktuelle Variante abzugewinnen. Essays tendieren dazu edler, belesener und anspruchsvoller als Romane zu sein - es gibt kein essayistisches Äquivalent zum 'populären Roman'. Selbst wenn sie in einem perfekt-lässigen Stil verfasst sind, wird man in ihnen halb verborgene Zitate oder Anspielungen finden, die dazu dienen, den schlauen Leserschichten zu schmeicheln oder sie vielleicht zu langweilen. Als Übungen des Innehaltens, der Erkundung und experimentellen Selbstmultiplizierung sind sie wie Romane - vielleicht sogar mehr. Man könnte sogar sagen, der Roman strebt die Qualität eines Essays an, und es gibt sicher nicht wenige Romanciers, die auch Essayisten waren. Man denke nur an Eliot oder Henry James, Woolf, Forster oder Orwell, oder Mann, Sartre, de Beauvoir, Weigoni, Camus u.a.! Möglicherweise irre ich mich auch, jedoch nicht umher, eher auf dem Weg, den der geschätzte Montaigne beschritten hat: frei flottierend. Die Reise geht weiter, die Schreibbewegung geht weiter, und solange das Schreiben den Tod aufschiebt, kann auch das Leben weitergehen. Vollendet ist das Werk, wenn der Essayist es losgelassen, es unvollendet hinterlassen hat.
Wir leben, so heißt es, in der Wissensgesellschaft. Was ist eigentlich Wissen? Unter dem Titel „Über die Schulmeisterei“ kann man bei Michel de Montaigne folgendes lesen: „Ich kenne einen, der, so oft ich ihn frage, ob er dies oder jenes weiß, ein Buch von mir verlangt, um es mir darin zu zeigen, und sich nicht getrauen würde, mir zu sagen, er habe die Krätze am Hintern, ohne auf der Stelle im Lexikon nachzuschlagen, was Krätze ist und was Hintern.“ Um zu verdeutlichen, was er sagen will, fügt Montaigne erläuternd hinzu: „Wir nehmen die Gedanken und das Wissen anderer in Obhut, und das ist alles. – Wir müssen sie uns aber zu eigen machen.“ Diese Montaignesche Unterscheidung erscheint mir weg weisend: der Gegensatz zwischen totem Buchwissen und einer lebendigen, neue Informationen, Methoden und Perspektiven ins eigene Selbst– und Weltverstehen integrierenden Intelligenz. Was Wissen erst wirklich vital macht ist die Fähigkeit, selbständig mit ihm umzugehen.
Jedes öffentliche Interesse schafft etwas Verschwiegenes, das hinter der Grenze dessen liegt, was mitgeteilt werden kann. Schwarze Löcher der Kommunikation. Blogs und Foren sind mittlerweile der Tummelplatz anonymer Heckenschützen. Längst sind es nicht mehr rechts- oder linksradikale Spinner, die sich in Verschwörungstheorien, Verleumdungen und Beleidigungen üben. Diese Leute haben der Masse an Schreibtischtätern, die sich heute hinter Pseudonymen und Kürzeln verbergen, nur Pate gestanden. Ihre Sprache kennt keinen Respekt - ihr fehlt also die Grundlage jeder Meinungsfreiheit.
Heute darf jeder Trottel Tabus brechen und seinen Schwachsinn publizieren, ohne mit seinem Namen dafür gerade stehen zu müssen. Das enthemmt. Der Preis der Demokratie ist eine exponenzielle Vervielfachung der Dummheit - wenn das, angesichts der Unendlichkeit, nicht selbst eine mathematische Dummheit wäre. Zur Dummheit aber gesellt sich im Internet die seelische Verrohung. Moderne heißt chronische Ungewissheit. Gäbe es keine Moderne, brauchte man auch kein Internet. Die Unruhe, so hat es ein alter Mystiker, Thomas von Kempen, einmal ausgedrückt, sei „der Hintern des Teufels“ – eine Formulierung, die Ernst Bloch zu einem Leitmotiv seines Denkens und Schreibens gemacht hat. Warum braucht denn jemand Methoden zum Schreiben?
Schon früh war ein ausgeprägtes Interesse an Literatur vorhanden. Ich habe als Pennäler systematisch die Klassiker gelesen und mich gleichzeitig mit zeitgenössischen Autoren auseinandergesetzt. Meine Begeisterung für Literatur ist sehr früh von einer fast atemlosen Verzückung für Heinrich von Kleist geprägt worden, was bis heute ganz sicher meine Vorlieben für zeitgenössische Autoren, die ich mag, und andere, die ich weniger mag, beeinflußt. Ich wurde als Leser zum Essayisten, und ich war ein Leser aus Notwendigkeit. Im Anfang war nicht das Wort, am Anfang war das Licht. Der Urknall, der das Universum vor etwa ca. 14 Milliarden Jahren schuf, war eine Explosion strahlender Energie. Unsere "Licht essenden" Körper sind demnach eine Ansammlung gespeicherte Lichtenergie - ein Abglanz des atomaren Feuers in unserer Sonne. Vieles an uns und der Welt ist rätselhaft und dunkel - und die Finsternis unserer Vorurteile bedrohlicher als die der Meerestiefen. Unser Verstand ist uns Licht in dieser Finsternis. Er leuchtet nur schwach - und ist dennoch das wunderbarste aller Sonnenkinder. Das ist die gute Seite meiner prekären Gesundheit. Schon als Kind hatte ich Probleme mit meinen Atemorganen und mußte monatelang das Bett hüten, was furchtbar langweilig war. Also begann ich zu lesen. Wenn man dauernd liest, Geschichten in sich aufnimmt und sich das noch vermischt mit jener Erzähllust, wie sie in meiner Familie herrschte, liegt es nahe, selbst zu schreiben. Ich begann, die Geschichten, die ich las, neu zu als Essay erzählen. Nach einem Aperçu von Jorge Luis Borges ist die Literatur selbst ihr eigentlicher Autor, auch wenn sie unter wechselnden Schriftstellernamen in Erscheinung tritt. Es wimmelt in ihr nur so von versteckten Doppelgängern, hinterhältigen Verschwörern und gewieften Falschmünzern, die ihre heimlichen Botschaften, verschlüsselten Kassiber und verworrenen Dossiers selbst über weit entlegene Räume und Zeiten hinweg austauschen. Dabei zielen die Ränke und Komplotte dieser Finsterlinge allesamt auf jene perfekten Verbrechen, welche die Kriminologen, alias Philologen, dann „Werke†nennen. Und während deren Korpora noch gesichtet und gesichert, klassifiziert und archiviert, kommentiert und musealisiert werden, konspiriert die Bande munter weiter. Von Plot zu Plot und von Blatt zu Blatt häutet sie sich wie eine Schlange, und wie diese beißt sie sich vorzugsweise in den eigenen Schwanz.
In der Bedeutung des Lehnwortes aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant. Damit möchte ich mich von einem so genannten "Fachmann" unterschieden. Auch Fachfrauen, die ich kennenlernte, halte ich für engstirnig, seelisch unberührbar und inhuman. Der Fachmann hat ausgespielt. Gefragt sind Menschen mit Verknüpfungskompetenz. Vor allem im intellektuellen Bereich. Nicht nur halte ich die Kategorien rechts und links für untauglich in der Kulturpolitik, sondern auch die Zuordnung zu Avantgarde oder Tradition – als handelte es sich hier um zwei Optionen, zwischen denen die Kulturpolitik wählen dürfte. Als Metafiktion bezeichnet man in der Erzähltheorie die Auseinandersetzung der Literatur mit ihren eigenen Vorgehensweisen, die Frage nach dem Status dessen, was sich überhaupt als wirklich bezeichnen lässt. Das ist keine leichte Frage, und noch viel weniger leicht sind die Antworten zu geben. Ich bin mit Leidenschaft dafür, daß Künstler sich mit grandioser Einseitigkeit auf das konzentrieren können, was sie spannend finden – und daß sie den Rest für völlig belanglos halten dürfen. Mit der gleichen Hartnäckigkeit bestehe ich darauf, daß die Kulturpolitik das nicht darf. Die Kulturpolitik muß die Tradition genauso ernst nehmen wie die Avantgarde – und umgekehrt. Deswegen wäre mir außerordentlich unbehaglich, wenn die großen politischen Lager in Deutschland sich in einer Mischung aus Übermut und unzureichender Aufklärung für eines dieser beiden großen Felder – Avantgarde oder Tradition – als heimliche Schirmherren exklusiv verantwortlich fühlen würden. In der großen Zeit des Bildungsbürgertums war diese Verbindung vielleicht lebendiger.
Von den Print–Medien kommend habe ich als Schwarz/Weiss–Mann mein ganzes Leben der Schrift gewidmet, den Buchstaben und Zeichen, die keine Halbtöne kennen. Leitartikel sind nicht ohne. Schwieriger aber schon eine Kritik, ein historischer Aufsatz. Noch schwieriger eine Reportage. Dann kommen die Glossen, Kolumnen, das ist schon ziemliche Kunst. Der Zeitungskünste höchste aber ist: der Essay. Warum? Weil der Essay nichts erzählt und nichts bedenkt, weil er im Gegensatz zur Glosse oder Kolumne keine Pointe kennt und keine Moral von der G’schicht, weil der Autor in jeder Zeile gegenwärtig und doch am Ende zwischen den Zeilen verschwunden sein muss. Weil ein Essay ein textlicher Schwebezustand ist, ein vages Nichts, das exakt alles enthält: Leitartikel, Reportage, Kritik, historische Betrachtung. Dieser Prozess, sein Geheimnis, aus intensiver Welt- und Selbstwahrnehmung einen Text im Tone völligen Unbeteiligtseins herzustellen, läßt sich auf keiner Journalistenschule lernen. Mein oberstes Ziel ist zugleich mein eigentliches Problem: die optimale Lesbarkeit. Der Leser soll durch einen Wald voller Lichteinfälle laufen, nicht durch Betonwüsten in der Vorstadt. Mein Leben ist eine Reise in die Welt der Zeichen, Buchstaben und Symbole. Natürlich ist das Leben in Farbe, aber Schwarz/Weiss ist realistischer.
Weil mein Leben alles andere als aufregend verlaufen ist, halte ich es nicht für nötig, über mich zu schreiben. Die Vorstellungskraft eines Essayisten muß über die engen Grenzen der eigenen Existenz hinausreichen. Das Schreiben ist für mich ein Akt des Erkundens, mit dem Ziel, das Fremde und Andere besser verstehen zu können. Der Drang des Entdeckens führt dazu, daß ich mich weder auf die Erzählstimme beschränke noch auf die Perspektive des Angehörigen einer Minderheit. Meiner Meinung nach ist ein Essayist weder Politiker noch Sprecher für irgendeine Sache, ihm muß unabhängig von Ideologien die totale Freiheit der Imagination zustehen. Die einzige Moral eines Essayisten ist ein guter Satz. Alle Literatur ist autobiographisch, denn nichts ist so autobiographisch wie die Phantasie. Dessen ungeachtet gibt es fiktionale Texte, die zudem thematisch eng mit der Vita des Schreibenden verbunden sind. Und dann sind da einige nichtfiktionale Gattungen, die eine eigene Zwitterform bilden. Briefe gehören dazu, Tagebücher, Aufzeichnungen. Diese Textsorten stehen nicht unter dem Anspruch, Kunst zu sein, auch wenn sie oft als wunderbare Prosa bestehen können. Das existenzielle Schreiben kann man bei als moralische Selbstbehauptung beschreiben, z.B. in Michel de Montaignes Rückzug in sein offenes Projekt der »Essais« sieht. Was ich an Montaigne schätze, ist seine vorurteilsfreie Menschenbetrachtung und sein liberales Denken. Mit dem Begriff 'Essay', zu Deutsch in etwa ''Versuch“, distanzierte sich der Meister bewußt von der Wissenschaft, seine ''Versuche'' sind vielmehr von subjektiver Erfahrung und Reflexion geprägte Erörterungen. Für mich bedeutet eine geistreiche Abhandlung eine Herausforderung meiner stilistischen und gedanklichen Fähigkeiten. Ich versuche mich dem Gegenstand der Überlegungen zu nähern und ihn aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Historisches Denken ist eine vielfältig einsetzbare Software, die in Wirtschaft und Politik wie auch im Medien– und Kulturbetrieb ein vertieftes Verständnis aktueller Probleme und Konflikte ermöglicht. Vielleicht gelingt es mir, der literarischen Kunstform des Essays eine aktuelle Variante abzugewinnen. Essays tendieren dazu edler, belesener und anspruchsvoller als Romane zu sein - es gibt kein essayistisches Äquivalent zum 'populären Roman'. Selbst wenn sie in einem perfekt-lässigen Stil verfasst sind, wird man in ihnen halb verborgene Zitate oder Anspielungen finden, die dazu dienen, den schlauen Leserschichten zu schmeicheln oder sie vielleicht zu langweilen. Als Übungen des Innehaltens, der Erkundung und experimentellen Selbstmultiplizierung sind sie wie Romane - vielleicht sogar mehr. Man könnte sogar sagen, der Roman strebt die Qualität eines Essays an, und es gibt sicher nicht wenige Romanciers, die auch Essayisten waren. Man denke nur an Eliot oder Henry James, Woolf, Forster oder Orwell, oder Mann, Sartre, de Beauvoir, Weigoni, Camus u.a.! Möglicherweise irre ich mich auch, jedoch nicht umher, eher auf dem Weg, den der geschätzte Montaigne beschritten hat: frei flottierend. Die Reise geht weiter, die Schreibbewegung geht weiter, und solange das Schreiben den Tod aufschiebt, kann auch das Leben weitergehen. Vollendet ist das Werk, wenn der Essayist es losgelassen, es unvollendet hinterlassen hat.
Wir leben, so heißt es, in der Wissensgesellschaft. Was ist eigentlich Wissen? Unter dem Titel „Über die Schulmeisterei“ kann man bei Michel de Montaigne folgendes lesen: „Ich kenne einen, der, so oft ich ihn frage, ob er dies oder jenes weiß, ein Buch von mir verlangt, um es mir darin zu zeigen, und sich nicht getrauen würde, mir zu sagen, er habe die Krätze am Hintern, ohne auf der Stelle im Lexikon nachzuschlagen, was Krätze ist und was Hintern.“ Um zu verdeutlichen, was er sagen will, fügt Montaigne erläuternd hinzu: „Wir nehmen die Gedanken und das Wissen anderer in Obhut, und das ist alles. – Wir müssen sie uns aber zu eigen machen.“ Diese Montaignesche Unterscheidung erscheint mir weg weisend: der Gegensatz zwischen totem Buchwissen und einer lebendigen, neue Informationen, Methoden und Perspektiven ins eigene Selbst– und Weltverstehen integrierenden Intelligenz. Was Wissen erst wirklich vital macht ist die Fähigkeit, selbständig mit ihm umzugehen.
Jedes öffentliche Interesse schafft etwas Verschwiegenes, das hinter der Grenze dessen liegt, was mitgeteilt werden kann. Schwarze Löcher der Kommunikation. Blogs und Foren sind mittlerweile der Tummelplatz anonymer Heckenschützen. Längst sind es nicht mehr rechts- oder linksradikale Spinner, die sich in Verschwörungstheorien, Verleumdungen und Beleidigungen üben. Diese Leute haben der Masse an Schreibtischtätern, die sich heute hinter Pseudonymen und Kürzeln verbergen, nur Pate gestanden. Ihre Sprache kennt keinen Respekt - ihr fehlt also die Grundlage jeder Meinungsfreiheit.
Heute darf jeder Trottel Tabus brechen und seinen Schwachsinn publizieren, ohne mit seinem Namen dafür gerade stehen zu müssen. Das enthemmt. Der Preis der Demokratie ist eine exponenzielle Vervielfachung der Dummheit - wenn das, angesichts der Unendlichkeit, nicht selbst eine mathematische Dummheit wäre. Zur Dummheit aber gesellt sich im Internet die seelische Verrohung. Moderne heißt chronische Ungewissheit. Gäbe es keine Moderne, brauchte man auch kein Internet. Die Unruhe, so hat es ein alter Mystiker, Thomas von Kempen, einmal ausgedrückt, sei „der Hintern des Teufels“ – eine Formulierung, die Ernst Bloch zu einem Leitmotiv seines Denkens und Schreibens gemacht hat. Warum braucht denn jemand Methoden zum Schreiben?