AW: Orientierung an Zielgruppen? Für wen mache ich mein Werk?
Ich bin nicht sicher, reden wir eigentlich über den gleichen Gegenstand? a) Zielgruppenorientierung oder b) Zielgruppenunterwerfung?
Bei a) versuche ich den subjektiv vorgestellten Rezipienten zu reizen, ihm etwas schmackhaft zu machen. Dabei versuche ich ganz natürlich etwas Neues zu finden, etwas sensationelles, das alle mitreißt. Herr der Ringe abzuschreiben würde mich ja auch nicht zu Tolkien_2 machen.
Ich will gar nicht mal sagen, dass diese konkrete Herangehensweise falsch ist - wobei falsch und richtig sowieso viel zu einseitige Kategorien sind. Nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine subjektive Erwartungshaltung (Antizipation) wirklich zu dem gewünschten Resultat führt. Eher geht es, zu konsequent betrieben, in die Leere. Es ist nur äußerst selten der Fall, dass jene Kapitel, die ein Autor für potenziell besonders "geliebt" hält, am Ende auch so positiv rezipiert werden. Ganz interessant ist das, wenn man sich die Literaturkritiken durchliest und sich dann zur Hand nimmt (sofern Quellen vorhanden sind), wie der Autor wirklich gearbeitet und worauf er den Fokus gelegt hat.
Ich nehme mal das ganz einfache Chandlerbeispiel. Als ich vor mehr als einem Jahrzehnt zum ersten Mal einen Marlowekrimi gelesen habe, war einer meiner Gedanken dabei: "Wow, der ist ja gesellschaftskritisch!" Dieser Gedanke - etwas besser formuliert - bestimmt bis heute teilweise noch die kritische Rezeption Chandlers. Wie er selbst in seinen Briefen darlegt, zeige er nie eine "konkrete" Gesellschaft, sondern immer einen Querschnitt, ein Abziehbild, das des Öfteren die Snobisten attackiere. Daraus resultierend seien div. Politiker auf ihn zugekommen und haben angefragt, ob er sich nicht bsplw. der Proletarierbewegung anschließen wolle. Er selbst kenne kein Tier mit dem Namen Proletarier und seie selbst ein Snob, weil er an den Snobs weder Geld noch Hygiene auszusetzen habe, sondern nur ihre furchtbare Bigotterie.
Diese Wertung fand sicherlich Eingang in seine Romane - aber schlußendlich hatte er immer den Anspruch, wie er selbst schrieb, Melodramen zu verfassen und sie in eine Kriminalhandlung einzubauen. Was heute bei den Lesern hängengeblieben ist, ist der harte Detektiv Philip Marlowe, der eine spießige Gesellschaft auseinandernimmt. Es sind (leider) seltener die Dialoge, die wunderbare Sprache und die emotionalen Dramen hängengeblieben, die er verfaßt hat.
Du kannst einen solchen Prozeß nicht steuern. Das funktioniert nicht. Deine Vorstellung von einem Leser ist, selbst wenn unbewußt, immer die Vorstellung von Dir als Leser. Marketing ist die Aufgabe von Leuten, die es gelernt haben - die beurteilen können, ob ihr Verlag das Risiko eingehen kann, Geld für ein Manuskript zu bezahlen, in der Hoffnung, es durch gezielte individuelle Marketingaktionen an den Mann zu bringen. Aber diese Profession, die ich durchaus sehr anerkenne, kann nicht durch den Künstler ersetzt werden. Schon gar nicht vor oder während des Schaffensprozesses! Das ist nichts weiter als eine virtuell zugeführte Blockade eigenen Denkens. Es ist mir nicht möglich, mir auch nur annähernd vorzustellen, wie ein künstlerisch Tätiger während seiner Arbeit von dieser Selbsteinteilung profitieren könnte.
Und dabei rede ich natürlich nicht von Genres - in diesem Sinne ist es klar, dass jedes Genre einer gewissen Architektur bedarf. Aber auch hier gibt es freie Spielräume - wie wir (nicht erst) durch Chandler gelernt haben (um beim Beispiel zu bleiben), kann auch ein Kriminalroman eine starke Charakterzeichnung und melodramatische Züge haben. Die Architektur der zu erzählenden Geschichte ist "nur" das Grundgerüst, das man mit Leben füllen muß. Jede Seite da auf irgendeinen Marktaspekt hin zu prüfen, ist Aufgabe des Lektors, der ggf. auch Einwände macht.
Für jemanden, der gerade an einem Manuskript arbeitet, glaube ich, dass "Orientierung" und "Unterwerfung" auf lange Sicht nur zwei Begriffe für dieselbe Sache sind. Wenn wir mehr und mehr von der Frage, inwieweit wir unserer eigenen Phantasie in der Beschreibung gerecht geworden sind, wie wir dies künstlerisch und technisch verbessern können, Abstand nehmen, um das danach geprüfte und überarbeitete Manuskript noch auf irgendeine Markttauglichkeit zu überprüfen - dann würde bald kaum ein Schriftsteller mehr irgendein Manuskript fertigstellen. Denn die "neue" Stimme des Kritikers, die des zielgruppenorientierten Kritikers, läßt sich nie ganz von der Stimme in uns trennen, die den Zweifel und die Furcht davor, nicht fähig genug zu sein transportiert. Das wird sich zweifellos mehr und mehr vermengen, um bald ein "objektives" Urteil der Zielgruppe abzugeben, das ein fertiggestelltes oder sich noch in Arbeit befindliches Manuskript als "ungeeignet" ablehnt.