Poldi

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Nachruf auf Lebende (Christa Wolf)

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Erster Eindruck: Familiengeschichte und Flüchtlingsdrama

Für die fünfzehnjährige Christa Wolf ist ihre Mutter der Mittelpunkt der Familie, dominant hat sie scheinbar alles im Griff. Doch sie will nicht wahrhaben, was offensichtlich ist, dass der sich dem Ende neigende zweite Weltkrieg Ströme von Flüchtlinge aus dem Osten auch über ihre kleine Stadt ergießen. Und so kommt es auch zur Flucht der Familie...

Christa Wolf hat mit „Nachruf auf Lebende“ einen ihrer wohl persönlichsten Romane verfasst und beschreibt darin eine Episode aus ihrer Jugend, die sie auch später noch sehr geprägt hat. Im Jahr 2014 wurde das Werk als Hörbuch für den MDR umgesetzt, im gleichen Jahr erschien diese Audioversion dann auch beim Audio Verlag auf 3 CDs. Imponiert hat mir die Sprache der Autorin, die mit einer sehr klaren Wortwahl und schnörkellosen Sätzen sehr treffend schildert und die Situationen und Gefühle absolut miterlebbar macht. Und es ist ebenso beeindruckend, wie sie das absolut ernst und traumatische Erlebnis, die so prägenden Erlebnisse mit einer feinen Prise Humor versieht. Sie beobachtet genau und setzt dabei auch immer wieder Schwerpunkte auf die zwischenmenschlichen Vorgänge in ihrer Familie – erst wenn man diese versteht, kann man auch ihre Gefühle und einige Situationen verstehen. Hier liegt eine große Stärke des Romans, so scharf umrissen habe ich kaum jemals eine Familienbande mit ihren Charakteren erlebt. Und dann die sich langsam anbahnende Katastrophe, die Schrecken der Flucht, diese intensive Beschreibungsweise, die wirklich nahe geht und dem Krieg noch eine ganz andere, grausame Seite abgewinnt. Ein herausragender Roman, der Zeitgeschichte mit einem ganz persönlichen Schicksal verbindet und gerade deshalb so nahe geht.

Dagmar Manzel war mir bisher aus nicht allzu vielen Produktionen bekannt, sodass ich recht unbefangen an ihre Performance herangehen konnte. Sie hat mich mit ihrer sanften und doch kraftvollen Stimme überzeugt und legt einen lebendigen, dynamischen Flair an den Tag. Sie schafft es, sich völlig in die Rolle der 15-jährigen Christa hineinzuversetzen und ihre Stimmungen und Gefühle dem Hörer zu vermitteln, ohne aufgesetzt oder übertrieben zu wirken.

Ein Portrait von Christa Wolf als Jugendliche ist auf dem Cover zu sehen, ihr charmantes und leicht verschmitztes Lächeln blickt dem Betrachter direkt entgegen, die schwarz-weiße Aufnahme wirkt kraftvoll und kommt auf dem hellgrauen Untergrund gut zur Geltung. Das schlichte, aber ansprechende Coverdesign zieht sich auch durch den Rest der gelungenen Aufmachung.

Fazit: Mit „Nachruf auf Lebende“ hat Christa Wolf einen ergreifenden Roman geschaffen. Die nachdrückliche Sprache, die eindrucksvolle Kombination von Familiengeschichte und Flüchtlingsdrama, durchzogen von einem feinen Humor, ernst und unterhaltsam zugleich. Die kraftvolle Lesung von Dagmar Manzel trägt ihr Übriges zum Gelingen bei.

VÖ: 1.April 2014
Label: Der Audio Verlag
Bestellnummer: 978-3-8623-1390-7
 
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